Experteninterview "Lernen lernen"

Dorothea Siller, 56, ist Förderlehrerin a.D und studiert im Master Geschichte an der Universität Passau. Sie hat rund 30 Jahre Berufserfahrung als Förderlehrerin und spricht im Interview mit der Beratungsstelle über Strategien zum Lernerfolg, wie man sich selbst motiviert und wie man innere Widerstände überwinden kann.
Beratungsstelle: „Lernen lernen“ – was bedeutet das?
Dorothea Siller: Es bedeutet kurz gesagt das Lernen zu erlernen. Im Kontext Schule – dieser Aspekt ist auch Teil einer universitären Ausbildung – bedeutet Lernen die Aufnahme und Verarbeitung neuer Bildungsinhalte und Erfahrungen. Man sollte diese planmäßig und je nach Notwendigkeit kurz- oder langfristig einprägen und situationsgerecht abrufen können. Dazu bedarf es der einen oder anderen Lerntechnik, einer Balance zwischen An- und Entspannung zur Regeneration und ‚Nachbearbeitung‘ im Gehirn. Man sollte sich also den Lernprozess bewusstmachen und darüber reflektieren.
Gibt es verschiedene Lern-Typen und wie unterscheiden sie sich?
In der Fachliteratur tauchen sechs Lerntypen auf, die aber nur selten in Reinform existieren. Die sechs Lerntypen sind ein pädagogisches Konstrukt und beziehen sich auf die Aneignung von Wissensinhalten im schulischen Kontext. Sie helfen als erster Anhaltspunkt sich über das eigene Tun bewusst zu werden. Es wird zwischen diesen Lerntypen unterschieden:
- a) der auditive Lerntyp lernt seine Vokabeln leichter, wenn er sie hört oder nachspricht
- b) der visuelle Lerntyp merkt sich Inhalte von Grafiken und mind maps besser als aus Texten oder zerlegt diese in kleinere Einheiten
- c) der motorische Lerntyp braucht mehr Handeln, z. B. beim Gehen memorieren oder Experimente durchführen
- d) der kommunikative Lerntyp lebt vom Austausch mit anderen, Reden und Zuhören
- e) der personenbezogene Lerntyp braucht einen guten Lehrer/ein Vorbild, welcher beim Lernen für ihn da ist
- f) der medienorientierte Lerntyp kann aus Medien virtuelle Inhalte leichter herausarbeiten, Lernprogramme und technische Geräte nutzt er für Wissenszuwachn
Wie lernt man selbstständig, ohne Anleitung und Lehrer?
- Wertschätzen Sie Ihren individuellen Lerntyp und nutzen Sie ihn.
- Arbeiten Sie möglichst multisensorisch, d.h. beziehen Sie mehrere Sinne ein anstatt nur in Ihre Aufzeichnungen zu sehen (laut dazu vorlesen, Karteikarten anfertigen)
- Probieren Sie ein paar wenige Lernstrategien über zum Beispiel je eine oder zwei Wochen aus. Wenn es klappt, behalten Sie diese und bauen sie aus. Wenn nicht, versuchen Sie eine andere.
- Akzeptieren Sie Ihren eigenen Biorhythmus. Lösen Sie sich ein Stück weit von der Vorstellung „Unter der Woche schuften - am Wochenende abfeiern“. Letzteres bringt Lern- und Leberstress. Lieber unter der Woche und am Wochenende in ausgewogenem Maß soziale Kontakte nach getaner Arbeit genießen und auch mal Ruhe/ Stille/ Nichts-tun einbauen.
- Finden Sie einen ruhigen Arbeitsplatz für sich. Wenn möglich immer den gleichen/ähnlichen (zum Beispiel in der Bib). Denn das Gehirn mag Konstanten.
- Zähmen Sie Ihr Handy. Nehmen Sie sich bewusst Zeit für Social-Media-Kontakte und Erledigungen, danach legen Sie es gezielt weg oder schalten es in den Flugmodus.
Wie entwickelt man sein eigenes Lern-System?
Sie brauchen mehr Kenntnis über sich selbst (Lerntyp, Biorhythmus, Dauer des Konzentrationsvermögens etc.) und Lernstrategien, die Ihnen wirklich nützen. Verschiedene Fächer erfordern unterschiedliche Strategien (Auswendiglernen von Faktenwissen, Berechnungen, Transferfragen etc.). Sie erhalten je nach Studiengang gute Informationen bei Ihrer Fachschaft. Finden Sie teamfähige Kommilitonen, die sich gerne mit Ihnen austauschen. Fragen Sie hier an unserer Universität nach einer psychologischen Beratung, welche auch Fragen zur Lernorganisation anbietet. Und es gibt eine Fülle an Literatur über Lernstrategien, die man ausprobieren kann.
Wie lange dauert es, bis man systematisch lernen lernt?
Beginnen Sie in kleinen Schritten. Nehmen Sie sich ein bis zwei Wochen vor, in denen Sie eine neue Strategie, einen Wochenplan ausprobieren. ‚Fehler‘ dabei sind die besten Lehrer, weil sie Ihnen Ihr Veränderungspotenzial aufzeigen. Man geht davon aus, dass das Gehirn für eine Verhaltensveränderung ca. sechs bis sieben Wochen benötigt, wenn man diese täglich konsequent einübt, um neue Strukturen aufzubauen. Danach gilt es durch Weitertraining diese zu verfestigen.
Wie geht man mit Ablenkungen um?
Werden Sie sich immer mehr bewusst, wann die Prokrastination bzw. der „innere Schweinehund“ wieder stärker war als Sie. Machen Sie einen „Deal“ mit ihm. Stellen Sie sich also Belohnungen nach der Übung oder am Ende des Tages in Aussicht. Seien Sie human zu sich selbst anstatt sich auch noch zu maßregeln. Bleiben Sie fest bei Ihrem Ziel, wenn Sie sich eine ablenkungsfreie Stunde einplanen (mit kleinen Einheiten anfangen und steigern).
Wie viel lernen am Tag/in der Woche ist „gesund“ bzw. nützlich?
Eine pauschale Antwort darauf oder ein Rezept dafür gibt es nicht, da es individuelle Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Wichtig bleibt, dass man seine geistige und körperliche Gesundheit täglich im Blick behält. Es gibt Menschen mit höherem Bewegungsdrang als andere, Menschen mit mehr Kommunikationsbedürfnis als andere, Menschen mit mehr Stille-Bedürfnis als andere. Nützlich meint hier sicherlich, den geforderten Leistungsumfang zu erfüllen. Für mich ist Wissen eine enorm spannende Sache. Aber gönnen Sie sich auch den „Mut zur Lücke“. Wer in jedem Bereich immer 100% oder mehr geben möchte, legt zwangsläufig andere Bereiche des Lebens still.
Sie sind ausgebildete Förderlehrerin. Welche Erfahrungen in der Schule sind übertragbar auf die Universität?
Der Name Hochschule impliziert eigentlich schon, worauf es hinausläuft. Obwohl das Anforderungsniveau für Lerninhalte und Sprache, für deren Qualität und Quantität wesentlich höher ist, obwohl es sich um erwachsene Studierende handelt, bleiben doch zwei Konstanten gleich: zum einen der Arbeitsvorgang des Lernens und zum anderen der Mensch als mehr oder weniger Aufnehmender in all seinen individuellen Anlagen. Insofern lassen sich viele Lernstrategien, die seit den 1990ern bei uns in Fortbildungen und auf dem Büchermarkt boomen, durchaus anwenden bzw. auf universitäres Niveau transformieren.
Wie motiviert man sich am besten, wenn der Fleiß mal nachlässt?
Fleiß ist im Bestfall Ausfluss einer intrinsischen Motivation, die im Flow mündet. Manfred Spitzer behauptet, dass der Mensch an sich motiviert ist, Neues zu entdecken. Langeweile, Unerwünschtes oder Misserfolge können die Motivation dämpfen. Wir generieren auch extrinsische Ziele wie „Ich brauche/möchte diesen Abschluss, damit ich ein bequemes/gut situiertes Leben führen kann“, die uns zum Lernen veranlassen. Das Gehirn arbeitet aber nicht wie eine Maschine mit on/off-Funktion. Es braucht Zeiten zum Überarbeiten und Überdenken und Entspannen. Manchmal reicht ein Spaziergang, manchmal ein halber Tag ohne Schreibtisch, eine regelmäßige Sporteinheit, manchmal auch ein Wochenende bei entfernten Freunden. Nach meiner Erfahrung kann ich sagen, dass je disziplinierter man sich im Alltag Pausen und am Ende des Tages eine bewusste Entspannungseinheit gönnt, desto weniger entstehen Löcher von totaler Erschöpfung, für die es dann eine längere Phase der Erholung und Re-Motivation braucht.
Vielen Dank für das Gespräch!