Transversale Sektionen
13. Navigieren auf Gewässern, Sprachen und Kulturen im karibischen und atlantischen Raum: Zusammenflüsse und Konvergenzen
In der Geschichte des französischen Kolonialraums war Wasser immer ein mehr oder weniger endgültiges Element sowohl der Trennung als auch der Verbindung. Fluss- und Seewege spielten eine wichtige Rolle in der Vermittlung von kulturellen und sprachlichen Kontakten, sowie als treibende Kraft der Kolonialisierung und Globalisierung. Dies gilt insbesondere für die Karibik, einen multikulturellen Raum, der stark von der Mobilität der Menschen und damit von der Zirkulation kultureller und sprachlicher Praktiken zwischen Europa, Afrika, dem amerikanischen Kontinent und den zahlreichen Inseln des Archipels geprägt ist. Diese Mobilitäten resultieren in einem neuartigen Zusammenfluss von sprachlichen Ressourcen unterschiedlichster Herkunft vor dem Hintergrund kolonialer Gewalt und Ungleichheiten.
Wenn man der französischen Kolonialdokumentation sowie den archäologischen Funden Glauben schenkt, so unterhielten die Inselvölker der Kleinen Antillen (allgemein bekannt als "Inselkariben" oder Kalinagos) schon lange vor der Kolonialisierung der Region durch die Europäer enge Beziehungen untereinander und zum Festland, was zu einem etymologisch gemischten Sprachrepertoire führte, in dem Elemente des Carib und des Arawak miteinander verschmolzen (vgl. Penard/Penard 1926/27; Taylor 1977; Prescod, eingereicht). Ab dem 15. Jahrhundert brachten Kolonialmächte wie Spanien, Frankreich, England und die Niederlande ihre jeweiligen Sprachen mit. Als die Spanier die Großen Antillen und später die anderen europäischen Mächte den Rest des Archipels nach und nach unter ihre Kontrolle brachten, etablierten sich Sprachpraktiken der interkulturellen Kommunikation, in denen indigene, hispanische und andere europäische Sprachelemente zusammenflossen. Im Rahmen ihrer Mobilität innerhalb des Archipels trugen die verschiedenen kolonialen Akteure zur Verbreitung dieser Praktiken im kolonialen See- und Landraum bei. Bis heute bewahren die Kreolsprachen und das Französisch des karibischen Raums Spuren davon (vgl. Jansen 2012).
Der atlantische Sklavenhandel ist ein weiteres Element, das die Sprach- und Kulturgeschichte der Karibik mit dem Meer und den Seewegen verbindet: Die Entstehung der Kreolsprachen aus dem Zusammenfluss afrikanischer und europäischer Sprachen ist das direkte Ergebnis der erzwungenen Mobilität versklavter Menschen über den Ozean. Noch heute klingen die Sehnsucht nach den Küsten Westafrikas sowie die schmerzhafte Erfahrung der Überfahrt in einigen afro-karibischen Diskurstraditionen wie Vaudou-Gesängen nach (vgl. Hebblethwaite 2021). Heute ermöglichen die Koexistenz des Französischen und der Kreolsprachen und die Durchlässigkeit zwischen ihnen sowie die Verbindungen der karibischen Inseln mit ihren zahlreichen Gemeinschaften in der nord- und südamerikanischen sowie europäischen Diaspora neue Formen des Austauschs und der sprachlichen und kulturellen Zusammenflüsse.
Ziel der Sektion ist, die sprachlichen und kulturellen Praktiken zu untersuchen, die sich im karibischen Raum (einschließlich der Diaspora) aufgrund von Mobilität und Konfluenzen entwickelt haben, welche die Seewege ermöglicht wurden. Wir nehmen sowohl eine historische als auch eine zeitgenössische Perspektive ein, indem wir versuchen, Spuren der Vergangenheit in den heutigen sprachlichen und kulturellen Repertoires und Praktiken zu finden. Untersucht werden Kontaktsituationen mit dem Französischen und/oder andere Kontaktsituationen, die sich in der französischen (kolonialen oder modernen) Dokumentation widerspiegeln.
Zu den Fragen, die behandelt werden können, gehören (unter anderem):
- Mobilität und sprachliche und kulturelle Zusammenflüsse der indigenen Bevölkerung der Antillen (Zusammenflüsse in der Kalinago/Garifuna-Sprache, Rolle der Kalinago im kolonialen Kultur- und Sprachaustausch, kulturelle Kontinuität und historische Weitergabe des indigenen Erbes an im Kontext von Mobilität usw.).
- Mobilität und Zusammenflüsse von Sprachen und Kulturen im französischen Kolonialraum (mots de voyage, vocabulaire des îles; Spuren des maritimen Französisch in den Kreolsprachen und des Antillenfranzösischen; Benennung von Gewässern und aquatischen Räumen).
- Überschneidungen und Konvergenzen kolonialer Diskurse (sprachliche und kulturelle Praktiken, die in der kolonialen Dokumentation beschrieben werden, z. B. im Rahmen der Mission oder in Reiseberichten; Diskurse über die Identitätsbildung, die aus den Erzählungen über die (un)freiwillige Mobilität hervorgehen).
- Überschneidungen und Konvergenzen französischer, afrikanischer und indigener Elemente (kulturelle Verflechtung, Sprachmischung, Kreolsprachen, Rolle afrikanischer Substrate bei der Kreolisierung; Überschneidungen zwischen indigenen und afrikanischen Sprach- und Kulturpraktiken im Rahmen von Schiffbrüchen oder des Marronage usw.).
Bibliographie
- Hebblethwaite, Benjamin. 2021. A Transatlantic History of Haitian Vodou. Jackson: University Press of Mississippi.
- Jansen, Silke. 2012. "La formation du français régional et du créole des Antilles: l'apport du taïno". In: André Thibauld (ed.) Le français dans les Antilles. Études linguistiques. Paris: L'Harmattan, 101–138.
- Peinard, Thomas/ Penard, Arthur. 1926/1927. "European influence of the Arawak language of Guiana". De West-Indische Gids 8, 165–176.
- Prescod, Paula (ed). i.p. The Carib, Kalinago, and Garifuna Peoples: Re-Investigating Indigeneity, Contact, and Hybridization in the Americas. University of Illinois.
- Taylor, Douglas. 1977. Languages of the West Indies. Baltimore: Johns Hopkins University Press.
Informationen zu dem Zeitplan folgen in Kürze.
Die Vorträge werden noch bekannt gegeben.
14. "Enthousiastes du théâtre français?" Transfers im Theater der Aufklärung
Während des 18. Jahrhunderts ist das Theater eines der wichtigsten Kommunikations- und Unterhaltungsmedien in Europa. Insbesondere in Frankreich genießt die Bühne im gesellschaftlichen Leben ein solches Ansehen, dass die Entwicklung einer regelrechten "société de spectacle" (Poirson/Spielmann 2017) zu konstatieren ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Theater auch häufig gewählt wird, um gesellschaftliche Veränderungen darzustellen, sowie dass die Bühne selbst Gegenstand mehrerer Reformversuche ist, die das Schauspiel näher an die Erfahrung des Alltags heranführen sollen. Im Zusammenhang mit dem französischen Theater sei hier nur der Fall von Denis Diderots "drame bourgeois" genannt: Dieses neue Untergenre sollte nicht nur dazu dienen, das Bürgertum mit einer gewissen Würde auf der Bühne darzustellen, sondern auch zu einer neuen Form der theatralischen Rezitation führen, die die Nähe zum ‚natürlichen‘ und alltäglichen Ausdruck sucht.
Aufgrund dieser Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und Theater sind die Aufführungen des 18. Jahrhunderts auch als Teil eines Dialogs in größerem Maßstab anzusehen, nämlich dessen zwischen Bühnenwerken und ihren interkulturellen Transferversuchen in Form von Übersetzungen bestimmter Werke, Raster oder Praktiken. Dieser Austausch zeigt sich vor allem im "genre sentimental", das, ursprünglich aus England stammend und durch George Lillos The London Merchant (1731) begründet, in Frankreich und Spanien ein kommerzielles Theater inspiriert, in dem die Ökonomie der Gefühle eng mit der Ökonomie der Güter verknüpft wird (vgl. Schuchardt 2023). In diesem von den drei Ländern gebildeten "Gefühlsdreieck" erweisen sich die Stücke von Diderot, Louis Sébastien Mercier, Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Falbaire de Quingey und Jean François de La Harpe, die ihrerseits von Lillo beeinflusst sind, als wichtige Vorbilder für das spanische Theater (vgl. Fuentes 1999; García Garrosa 2012; 1991; 1990). Parallel zur Entwicklung einer französischsprachigen "République des lettres", die den Austausch zwischen europäischen Autorinnen und Autoren sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern pflegt, wird das französischsprachige Theater von verschiedenen Einflüssen gespeist und schafft es dadurch, sich selbst zu erneuern. Das Beispiel des Theaters von Marivaux illustriert in anschaulicher Weise, wie der Stoff der commedia dell'arte – und in der Folge das Talent der Schauspielerinnen und Schauspieler des Nouveau Théâtre-Italien – die Entwicklung einer neuen Form der psychologischen Komödie fördert, deren ‚fremder‘ Ausdruck sogar in d'Alemberts zweideutigem Éloge de Marivaux seinen Niederschlag findet. Andererseits trägt die französische Bühne auch zum politischen und diplomatischen Handeln Frankreichs bei: da Rahoul Markovits (2014) hat bereits gezeigt, dass das französische Königreich im 18. Jahrhundert eine diplomatische Kampagne zur Verbreitung des Theatererbes in ganz Europa durch Truppen oder einzelne Talente verfolgt, die auf Tournee und an die Theater der europäischen Höfe geschickt werden. Anders ausgedrückt stärken Aufführungen in französischer Sprache den politischen und sozialen "Gallotropismus" (Adam/Mondot 2016) in Europa auf kultureller Ebene.
Tatsächlich stellt der französische Schriftsteller und Historiker italienischer Abstammung Louis-Antoine Caraccioli (1719–1803) in seiner Abhandlung Paris, le modèle des nations étrangères ou L'Europe française von 1776 fest, dass das französische Theater eine natürliche Gunst der europäischen Gesellschaften genießt: "Les différens peuples ont bien être attachés à leur genre d'écrire & de déclamer, ils ne peuvent ne s'empêcher d'être enthousiastes du théâtre Français." Diese Beschreibung verdeckt jedoch die politischen Bemühungen und Machtbeziehungen, die diese Vorliebe beeinflussen. Das Phänomen der Verbreitung im Dienste politischer Interessen zeigt deutlich, wie das kosmopolitische Ideal als Tarnung für hegemoniale Bestrebungen eingesetzt werden kann: Die europäischen Höfe des 18. Jahrhunderts verpflichten häufig französische Truppen, um ihr Prestige zu vergrößern; doch dieses Distinktionsmerkmal, das von diplomatischen Agenten Frankreichs kontrolliert und gelenkt wird, übt auch einen Einfluss auf die sozialen Normen aus, sodass sich die heterogenen Moralvorstellungen dem französischen Standpunkt annähern. Gleichzeitig – wie die zahlreichen ‚Übersetzungen‘ französischer Stücke in Spanien, die in Wirklichkeit für einen anderen kulturellen Kontext konzipierte ‚Adaptionen‘ sind, oder der Einfluss der italienischen Oper auf die französischen und spanischen Bühnen zeigen – führen die Zusammenflüsse der verschiedenen europäischen Theatertraditionen zu Innovationen bei den materiellen Bedingungen der Theatertätigkeit, wie Bühnenbild und Bühnentechnik (vgl. Arreguí 2000). Sowohl in Frankreich als auch in Spanien gehen diese mit einer Theaterreform einher, die Teil des sozialen Aufstiegs der Bourgeoisie ist.
Einerseits zielt unsere Sektion darauf ab, die Erscheinungen und Bedeutungen des, Kosmopolitismus‘ in der französischen und europäischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts darzustellen, und zwar sowohl auf der Ebene der Theaterwerke als auch auf der Ebene der Aufführungspraxis und -politik, was die französischsprachigen Produktionen in den verschiedenen Ländern Europas einschließt. Dabei sollen die unterliegenden Machtbeziehungen nicht unbeachtet bleiben. Andererseits soll die Sektion die Einflüsse bestimmter französischer Dramengattungen, Autorinnen und Autoren oder Stücke in anderen europäischen Ländern vor allem in der Romania untersuchen. Wie ist das Theater in die ästhetischen, politischen und philosophischen Diskurse eingebunden, die das Denken der Aufklärung in Europa prägen?
Um diese Fragen zu beantworten, bitten wir insbesondere um Vorträge zu einem oder mehreren der folgenden Themen:
- Theater und Wirtschaft: Europäischer Handel mit Theaterstücken und die Entwicklung eines internationalen Marktes für Theaterstücke;
- Übersetzungspraktiken: Kulturtransfer durch die Übersetzung bestimmter Werke;
- Kulturagenten und Rezeptionsdynamiken: Untersuchung der Voraussetzungen für den Kulturtransfer, der Eigeninitiative und der kritischen Aufnahme von übersetzten und/oder importierten Stücken;
- Theater und Philosophie der Aufklärung: Moralische Gesellschaftsmodelle, Inszenierung des interkulturellen Kontakts und ihre grenzüberschreitende Verbreitung durch Aufführungen;
- Theaterreformen und interkulturelle Aufführungsgesellschaft: Der Anteil des Kulturtransfers an den Reformen des Schauspiels im 18. Jahrhundert, Import und Adaption von performativen Genres auf europäischer und globaler Ebene.
Bibliographie
- Adam, Wolfgang/Jean Mondot. 2016. "Der Gallotropismus. Nutzen und Tragweite des Begriffs". In: Wolfgang Adam/Ruth Florack (eds.). Gallotropismus, Bestandteile eines Zivilisationsmodells und die Formen der Artikulation / Gallotropisme, les composantes d'un modele civilisationnel et les formes de ses manifestations. Heidelberg: Winter, 1–35.
- Arreguí, Juan P. 2000. "Algunas consideraciones acerca de la conformación técnica de la pintura teatral española en el siglo XIX". Espéculo 14, 1–29.
- Beaurepaire, Pierre-Yves. 2007. Le mythe de l'Europe française au XVIIIe siècle. Paris: Autrement.
- Beaurepaire, Pierre-Yves, Philippe Bourdin/Charlotta Wolff (eds.). 2018. Moving scenes. The circulation of music and theatre in Europe in the age of enlightenment and revolution. Oxford: Voltaire Foundation.
- De Luca, Emanuele. 2018. "La circulation des acteurs italiens et des genres dramatiques dans la première moitié du XVIIIe siècle". In: Sabine Chaouche et al. (eds.). L'Opéra de Paris, la Comédie-Française et l'Opéra-Comique: Approches comparées (1669-2010) Paris: Publications de l'École nationale des chartes, 241–254.
- Fuentes, Yvonne. 1999. El triángulo sentimental en el drama del Dieciocho(Inglaterra, Francia, España). Kassel: Reichenberger.
- García Garrosa, María Jesús. 1990. La retórica de las lágrimas.La comedia sentimental española, 1751–1802. Valladolid: Universidad de Valladolid.
- García Garrosa, María Jesús. 1991. "El comerciante inglés y El fabricante de paños: de la traducción a la adaptación". Anales de Literatura Española 7, 85–95.
- García Garrosa, María Jesús. 2012. "El trapero de Madrid de L.-S. Mercier, en la traducción de Antonio Valladares de Sotomayor (1801)". Cervantes Virtual. Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, 1–10. URL: http://www.cervantesvirtual.com/nd/ark:/59851 /bmcm61s9, consulté le.
- Goodman, Jessica. 2017. Goldoni in Paris. "La Gloire et le Malentendu". Oxford: Oxford University Press.
- Grimberg, Michel. 2014. "Fonction des modèles français dans la rénovation du théâtre comique allemand au XVIIIe siècle: diversité des répertoires et entrée dans al modernité". In: Guillemette Marot-Mercier/Nicholas Dion (eds.). Diversité et modernité du théâtre du XVIIIe siècle. Paris: Hermann, 395–410.
- Gutiérrez Carou et al. (eds.). 2019. Goldoni "avant la lettre": drammaturgie e pratiche attoriali fra Italia, Spagna e Francia (1650–1750). Venice: Lineadacqua.
- Lafarga, Francisco (éd.). 1999. La traducción en España (1750–1830): lengua, literatura, cultura. Lleida, Universitat de Lleida.
- Markovits, Rahul. 2014. Civiliser l'Europe: Politiques du théâtre français au XVIIIe siècle. Paris: Fayard.
- McMahan, Matthew J. 2021. Border-Crossing and Comedy at the Théâtre Italien, 1716–1723. Cham: Palgrave Macmillan.
- Poirson, Martial/Guy Spielmann. 2017. "Avant-propos". Dix-huitième siècle 49, 5–25.
- Schuchardt, Beatrice. 2023. Die Anthropologisierung des Ökonomischen in spanischen Komödien, 1762-1805. Vom vir oeconomicus bis zur femina profusa. Frankfurt am Maim/Madrid: Iberoamericana Vervuert.
Informationen zu dem Zeitplan folgen in Kürze.
Die Vorträge werden noch bekannt gegeben.
15. Zwischen Konvention, Innovation und ästhetischer Erfahrung: Einflüsse literarischer Texte im aktuellen Französischunterricht
Literarische Texte schreiben sich sowohl in ihrem Gehalt als auch in ihrer formalästhetischen Gestaltung in Konventionen ein, brechen diese durch Innovationen auf und führen sie in immerwährender Prozessualität fort. Innerhalb dieser Dynamiken können sie über Jahrhunderte kulturell einflussreich sein oder schon nach kurzer Zeit an Einfluss verlieren. Sie können lange nach ihrer Entstehung und einem womöglich langen Vergessen wiederentdeckt werden, ihre Wirkkraft immer neu entfalten und dergestalt ästhetisch erfahren werden, dass die "Heranwachsenden als Subjekte ihres Lernens angesprochen und beansprucht werden" (Duncker 1999, 11). In der vorgeschlagenen transversalen Sektion sollen literarische Einflussphänomene im aktuellen Französischunterricht mit einem besonderen Blick auf ihr Spannungsfeld zwischen Konvention, Innovation und ästhetischer Erfahrung identifiziert und diskutiert werden.
In der aktuellen Krise des fremdsprachlichen Literaturunterrichts (vgl. Blume 2015; Hertrampf 2018; Ißler 2019; 2022) scheint die von den Kernlehrplänen der Bundesländer bereits geforderte (literatur-)wissenschaftliche Propädeutik des Französischunterrichts in der Oberstufe dabei mehr denn je ein Ziel zu sein, das in der literaturdidaktischen Debatte berücksichtigt werden sollte. Diese Sektion möchte deshalb einen Diskussionsraum zu einflussreichen Texten in der interdisziplinären Vernetzung von Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Fachdidaktik und Schulpraxis eröffnen. Zu erörtern ist, welche literarischen und kulturellen Einflüsse im heutigen Französischunterricht mit literarischen
Werken und ggf. weiteren fiktionalen Entwürfen behandelt werden (sollten), wie sich die zur Diskussion stehenden Gegenstände zwischen tradierten Konventionen und aufbrechenden Innovationen – u.a. in Genre, Medialität, Gestaltungsmitteln, Sprachverwendung, Thematiken – positionieren, wie sie sich für den Schulunterricht begründen, methodisch-motivational mit Schülerinnen und Schülern erarbeiten und ästhetisch erfahren ließen. In ihrer literaturwissenschaftlich-literaturdidaktischen Transversalität legt unsere Sektion einen besonderen Schwerpunkt auf Einflussprozesse innerhalb kulturell-ästhetischer Bildung und darin auf das "erkenntnistheoretische Moment" (Otto 1998, 56) inter- und transkulturellen sowie literarischen Lernens. Laut Bildungsstandards beinhaltet Text- und Medienkompetenz "das Erkennen konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter Charakteristika von Texten und Medien, die Verwendung dieser Charakteristika bei der Produktion eigener Texte sowie die Reflektion des individuellen Rezeptions- und Produktionsprozesses" (KMK 2012, 20). Die Kompetenz, Texte und Medien in ihrer Faktur zu erkennen, heißt also, sie als Ausdruck "konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter" künstlerischer Mittel reflektieren und reproduzieren zu lernen und damit ein Bewusstsein für die wechselseitigen Einflüsse von Kultur, Kunst und Gesellschaft sowohl zu erlangen als auch in der eigenen Kreativität zu praktizieren. Nicht nur bei der Ausbildung von Text- und Medienkompetenzen, sondern – eng mit ihnen verbunden (vgl. Decke-Cornill 1994) – auch von interkulturellen kommunikativen Kompetenzen fällt dem Begriff der Konvention innerhalb der Bildungsstandards eine
zentrale Rolle zu: In ihrem unmittelbaren wie medial vermittelten kommunikativen Handeln greifen Schülerinnen und Schüler "auf ihr interkulturelles kommunikatives Wissen zurück und beachten kulturell geprägte Konventionen. Dabei sind sie in der Lage, eigene Vorstellungen und Erwartungen im Wechselspiel mit den an sie herangetragenen zu reflektieren und die eigene Position zum Ausdruck zu bringen" (KMK 2012, 19). Wie lernen aber Schülerinnen und Schüler konkret im Umgang mit literarischen Texten, "kulturell geprägte Konventionen" und damit Einflussmechanismen auf ihre Vorstellungs- und Erwartungswelt kritisch zu reflektieren und ggf. zu überwinden – "zugleich handlungsorientiert und ethisch-moralisch und logisch-theoretisch und ästhetisch-spielerisch" (Sievert-Staudte 1998, 27)? Wie verortet sich diese "Bildung als Selbstbildung des Subjekts" (ebd.) zwischen "Selbstbezug und Weltbezug" (Brandstätter 2012, 176) und dabei v.a. im Einflussraum von Konvention, Innovation und ästhetischer Erfahrung? Wie wird dieser Einflussraum durch Auswahlmechanismen literarischer Texte in nicht immer einsehbaren Kanonisierungsprozessen geprägt (vgl. Calderón Villarino/Jessen 2020 sowie Calderón Villarino/Grünnagel/Jessen/Nickel-Holze [2023])? Welcher Mehrwert kommt in der zu erlernenden Bewusstwerdung von Konventionen und Einflussdynamiken insbesondere der ästhetischen Verfasstheit von Texten und Medien zu, die eine eigene Erfahrung, eine ästhetische Erfahrung auszulösen imstande sind? Und wie lassen sich in der Schulpraxis anwendbare literarästhetische Kompetenzen entwickeln und weiterentwickeln (u.a. ausgehend von Spinner 1998; Engel 2004; Kammler 2006; Spinner 2006; Lösener 2010; Hallet 2010; Surkamp 2012; Durczok 2016; Bruno 2020), wenn doch ihre Modellierung "theoretisch-konzeptionell ebenso wie empirisch" noch immer ein Forschungsdesiderat darstellt (Surkamp 2012, 86)? Es wird hierbei auch darum gehen, zentrale Forschungspositionen zur ästhetischen Bildung bzw. ästhetischen Erfahrung (vgl. Dewey 1980; Goodman 1998; Küpper/Menke 2003; Brandstätter 2013, Deines/Liptow/Seel 2013; Bertram 2014; Welsch 2017) in die transversale Diskussion zu integrieren. Darüber hinaus harren literarisch-kulturelle Mythen, Topoi, Skripte, Motive und Stereotype sowie das Potenzial einer ästhetischen Erfahrung an ihnen im Zeitalter einer häufig unreflektierten medialen Konsumhaltung, das den Lernenden in ihrer "Zeit der flüchtigen Wahrnehmungen" (Spinner 1998, 47) dringender denn je "Fiktionalitätskompetenz" abverlangt (Rössler 2010), einer gebotenen Didaktisierung, die sich auf der Höhe der aktuellen Forschung in den Bezugswissenschaften bewegt, wobei auf Konzepte der inter- bzw. transkulturellen (vgl. Schumann 2008; Reimann 2017) und intertextuellen (vgl. Hallet 2002) Literaturdidaktik zurückgegriffen werden kann. Fachdidaktik sowie Literatur- und Kulturwissenschaft können und sollten – so unsere Überzeugung – über die jeweils andere Perspektivierung ihrer teils identischen, teils (noch) divergenten Gegenstände in einen konstruktiven Dialog eintreten und auf diesem Wege den fremdsprachlichen Literaturunterricht und seine Aufgabenformate im kompetenzorientierten Schulunterricht unserer Gegenwart weiterentwickeln.
Unsere gemeinsame Sektionsarbeit wollen wir auf vier Felder konzentrieren:
Lektüren im aktuellen Französischunterricht
- Welche bekannten und unbekannten, welche einflussstarken und welche einflussschwachen fiktionalen Werke werden aus welchen Gründen im aktuellen
Französischunterricht eingesetzt – und wie lässt sich ihr ‚Einfluss‘ messen oder zumindest plausibilieren und literaturdidaktisch erfassen? - Wie können Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Fachdidaktik und Schulpraxis mit Blick auf auszuwählende Schullektüren und passende Aufgabenformate zusammenarbeiten?
Konvention, Kanonisierung, Innovation
- Wie entsteht und bemisst sich die Einflusskraft fiktionaler Werke im Spannungsfeld von
Konvention und Innovation? Warum entfalten beispielsweise manche Texte eher
außerhalb der Schule ihren kulturellen Einfluss, während andere Texte sich in einem Schulkontext erschöpfen, ohne merklich in die Gesellschaft zu wirken oder von der
Literaturwissenschaft beachtet zu werden? - Welche Rolle spielen dabei Kanonisierungsprozesse durch Verlagsprogramme,
Bildungsstandards und Lehrpläne, Abiturthemen, soziokulturelle Rückwirkungen, etc.?
Kompetenzerwerb zwischen Inter- / Transkulturalität und Intertextualität
- Warum und über welche Mechanismen entfalten literarische Texte und andere
fiktionale Entwürfe dann besonderen Einfluss, wenn sie nicht nur thematisch, sondern
gerade in ihrer ästhetischen Verfasstheit rezipiert werden und wie kann diese textuelle
bzw. mediale Bezugnahme im Unterricht fruchtbar gemacht werden? - Wie kann die Bewusstmachung der intertextuellen Dimension literarischer Werke auch
der Förderung interkultureller kommunikativer Kompetenzen sowie der Text- und
Medienkompetenzen dienen?
Ästhetische Erfahrung
- Auf welche Weise können literarische Texte, Filme, Graphic Novels, etc. besonders
dann nachhaltig Einfluss entfalten, wenn die Schülerinnen und Schüler an ihnen eine
ästhetische Erfahrung machen können und diese auch zu reflektieren lernen? - Welchen Raum hat ästhetische Bildung/Erfahrung im aktuellen Französischunterricht
und welchen sollte sie in Zukunft einnehmen?
Bibliographie
- Bertram, Georg W. 2014. Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp.
- Blume, Otto-Michael. 2015. "Im Wunderland der Kompetenzen – Und wo bleiben die Inhalte?" Französisch heute 3, 29–36.
- Brandstätter, Ursula. 2013. "Ästhetische Erfahrung". In Hildegard Bockhorst et al. (eds.). Handbuch kulturelle Bildung. München: kopaed, 174–180.
- Bredella, Lothar et al. (eds.). 2007. Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier: WVT.
- Bruno, Carlo. 2020. Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Bielefeld: transcript.
- Calderón Villarino, Ángela/Jessen, Herle-Christin (eds.). 2020. "Stellenwert und Relevanz klassischer Texte im Unterricht". HeLix. Beihefte zur romanischen Literaturdidaktik 13.
- Calderón Villarino, Ángela et al. (eds.). 2023. "Fremdsprachliche Schullektüren auf dem Prüfstand – der 'implizite Kanon' im Blick von Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik". HeLix. Beihefte zur romanischen Literaturdidaktik 18.
- Decke-Cornill, Helene. 1994. "Intertextualität als literaturdidaktische Dimension. Zur Frage der Textzusammenstellung bei literarischen Lektürereihen". Die Neueren Sprachen 93/3, 272–287.
- Deines, Stefan et al. (eds.). 2013. Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin: Suhrkamp.
- Dewey, John. 1980. Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Duncker, Ludwig. 1999. "Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung". In Norbert Neuß (ed.). Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Frankfurt am Main: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, 9–20.
- Durczok, Frederik. 2016. Ästhetik und Didaktik. Auf der Suche nach Unterricht für die Zukunft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
- Engel, Birgit. 2004. Spürbare Bildung. Über den Sinn des Ästhetischen im Unterricht. Münster: Waxmann.
- Garofalo, Nicola/Grünnagel, Christian. 2020. "Skandalautoren in der Schule? Literaturdidaktische Überlegungen zu Michel Houellebecqs Roman Soumission in der gymnasialen Oberstufe". In Andreas Grünewald et al. (eds.). Kontrovers. Literaturdidaktik meets Literaturwissenschaft. Trier: WVT, 209–227.
- Goodman, Nelson. 1998. Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Hallet, Wolfgang. 2002. Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT.
- Hallet, Wolfgang. 2010. "Literarische Kompetenz". In Carola Surkamp (ed.). Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart/Weimar: Metzler, 232–233.
- Hertrampf, Marina O. 2018. "(K)Eine Zukunft für den fremdsprachlichen Literaturunterricht an Schulen?! Perspektiven und Ansätze". HeLix. Dossiers zur romanischen Literaturwissenschaft 11, 41–61.
- Ißler, Roland Alexander. 2019. "Zeit für Bildung in Zeiten der Effizienzlogik. Ein Gang zur Quelle oder: Vom Wert kultureller und humaner Bildung für den romanischen Fremdsprachenunterricht". In Redecker, Anke et al. (eds.). Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff?! Festschrift für Volker Ladenthin zum 65. Geburtstag. Göttingen: V&R, 177–198.
- Ißler, Roland Alexander. 2022. "Les merveilleux nuages ... Plädoyer für die Aufwertung ästhetischer Momente im Französischunterricht". Französisch heute 53/2, 5–9.
- Kammler, Clemens. 2006. Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze: Kallmeyer.
- KMK. 2012. Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache(Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (25.06.2023).
- Küpper, Joachim/ Menke , Christoph (eds.). 2003. Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Lösener, Hans. 2010. "Poetisches Verstehen bei der Unterrichtsvorbereitung. Überlegungen zur literaturunterrichtlichen Sachanalyse". In Iris Winkler et al. (eds.). Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Hohengehren: Schneider, 82–97.
- Nickel-Holze, Felix. 2023. "Jüdische Identität(en) in Éric-Emmanuel Schmitts MonsieurIbrahim et les fleurs du Coran". HeLix. Beihefte zur romanischen Literaturdidaktik 18.
- Otto, Gunter. 1994. "Das Ästhetische ist 'Das Andere der Vernunft'. Der Lernbereich Ästhetische Erziehung". Friedrich-Jahresheft XII, 56–58.
- Reimann, Daniel. 2017. Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Sprachen Theorie und Praxis eines neokommunikativen und kulturell bildenden Französisch-, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts. Stuttgart: ibidem.
- Rössler, Andrea. 2010. "Es gibt Dinge, die gibt's gar nicht. Zur Förderung der Fiktionalitätskompetenz im Fremdsprachenunterricht". In: Claus Altmayer et al. (eds.). Grenzen überschreiten: sprachlich – fachlich – kulturell. Baltmannsweiler: Schneider, 167–177.
- Sievert-Staudte, Adelheid. 1998. "Ästhetisches Lernen". In: Dieter Haarmann (ed.). Wörterbuch Neue Schule. Die wichtigsten Begriffe der Reformdiskussion. Weinheim: Beltz, 22–27.
- Surkamp, Carola. 2012. Literarische Texte im kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht. In: Wolfgang Hallet/Ulrich Krämer (eds.). Kompetenzaufgaben im Englischunterricht. Grundlagen und Unterrichtsbeispiele. Seelze: Kallmeyer, 77–90.
- Schumann, Adelheid. 2008. "Transkulturalität in der Romanistischen Literaturdidaktik. Kulturwissenschaftliche Grundlagen und didaktische Konzepte am Beispiel der littérature beur". Fremdsprachen lehren und lernen 37, 81–94.
- Spinner, Kaspar H. 1998. "Thesen zur ästhetischen Bildung im Literaturunterricht heute". Der Deutschunterricht 50/6, 46–54.
- Spinner, Kaspar H. 2006. "Literarisches Lernen". Praxis Deutsch 200, 6–16.
- Welsch, Wolfgang 2017. Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam.
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