Logo der Universität Passau

Interview mit Dr. Vanessa Vollmann

ZKK: Warum ist es gerade heute wichtiger denn je, sich intensiv mit Alltagsrassismus und -sexismus auseinanderzusetzen?

Dr. Vanessa Vollmann: Mein Eindruck ist, dass sich in den letzten Jahren eine gewisse Müdigkeit in der Gesellschaft eingestellt hat, sich mit diesen Themen zu beschäftigen, vor allem bei Menschen, die von Alltagsrassismus oder -sexismus nicht direkt betroffen sind. Die dadurch entstehende Passivität bringt sogar an manchen Stellen defensive Abwehrreaktionen hervor – teilweise sind auch viele Tabus gefallen, besonders dort, wo sich Menschen von der „woke“-Bewegung bevormundet fühlen. Das ist dort besonders gefährlich, wenn Menschen überhaupt nicht verstehen, was „woke“ eigentlich bedeutet, sondern die Verballhornung des Wortes von rechten Bewegungen unkritisch übernehmen. „Woke“ leitet sich von dem englischen Adjektiv „awake“ ab. Insofern beschreibt „woke“ den Bewusstseinszustand, dass wir alle, jeden Tag, in gesellschaftlichen, sozialen, politischen, ökonomischen Strukturen leben, die einige Menschen priviligieren während sie andere benachteiligen. Die Strukturen, die Alltagsdiskriminierung unterstützen, sind nach wie vor stabil. Deshalb erscheint es mir wichtig, immer und immer wieder auf sie hinzuweisen und dabei zu unterstreichen, dass „woke“ nur bedeutet, dass man sich bewusst ist, dass man „wach“ ist und diese erkennt. Wenn wir  Diskriminierung nicht unbewusst unterstützen wollen, ist es wichtiger denn je, in dieser Beziehung „wach“ und wissend zu sein. Das ist in Mitten des  gegenwärtigen Rechtsrucks in der Politik und in der Gesellschaft besonders wichtig.

ZKK: Ihr Workshop setzt stark auf Selbstreflexion und praktische Übungen. Warum ist diese Kombination aus Reflexion und Handlungstraining so entscheidend?

Dr. Vanessa Vollmann: Es geht in unserem Workshop gerade nicht darum, Schuld und Scham auszulösen, wenn wir uns bewusst werden, dass wir alle manchmal rassistische oder sexistische Verhaltensweisen an den Tag legen oder früher mal gelegt haben. Gemeinsame Reflexionsübungen, während derer alle gleich vulnerabel sind, helfen uns dabei, unsere eigenen Verhaltensmuster besser zu verstehen. Nur dann können wir auch etwas dagegen tun. Und das muss eben geübt werden. Wir wissen ja alle wie schwer es ist, gewohnte Verhaltensmuster abzulegen. Das ist bei Alltagsrassismus und -sexismus nicht anders.

ZKK: Was können sich Studierende unter einer „Sprachzeugkiste“ vorstellen – und wie hilft sie im Alltag bzw. später im Berufsleben?

Dr. Vanessa Vollmann: Wir geben unseren Teilnehmenden Vorschläge für bestimmte Sprache mit an die Hand, mit der sie üben können, im Alltag und auch Berufsleben, gegen Alltagsrassismus und -sexismus ihre Stimme zu erheben. Unabhängig davon, ob man selber betroffen ist oder man eine diskriminierende Situation beobachtet, ist es ja meistens so, dass man in dem Moment eine solche Situation nicht erwartet. Oft ist man dann einfach geschockt und überhaupt nicht schlagfertig. Hinterher fallen einem dann die „richtigen“ Antworten ein oder man macht sich Vorwürfe, wenn man eben nichts gesagt hat. Dann ist es aber zu spät. Mit unserer Sprachzeugkiste hat man wenigstens einige kurze Antworten zur Hand und stellt sicher, dass man in einer betreffenden Situation eben nicht geschwiegen und damit systemische Diskriminierung unterstützt hat.

ZKK: Sie arbeiten mit der ICORE-Methode. Können Sie kurz erklären, worum es dabei geht und warum Sie diese Methode gewählt haben?

Dr. Vanessa Vollmann: ICORE steht für:

Identifizieren: Erkennen, ob in einer Situation Alltagsrassismus oder -sexismus stattfindet/vorliegt.

Checkin: Die eigene Situation erkennen (habe ich die Kapazitäten zu handeln? Bin ich safe?).

Optionen: Sich für eine kurze Antwort aus der Sprachzeugkiste entscheiden oder sich auf eine längere Auseinandersetzung einlassen.

Reaktion: Wenn es eine längere Auseinandersetzung wird: Wie strukturiere ich meine Argumente?

Evaluation: War ich erfolgreich? Wenn nicht, was kann ich beim nächsten Mal anders machen?

Diese Methode hilft uns, die Komplexität von „Ally“-sein oder eine direkt von Alltagsrassismus oder-sexismus betroffene Person zu sein, besser zu bewältigen.

ZKK: Welche Aha-Momente erleben Teilnehmende typischerweise während des Workshops?

Dr. Vanessa Vollmann: Die meisten Teilnehmenden erkennen im Workshop, dass sie Privilegien oder auch systemische Nachteile haben, derer sie sich nicht bewusst waren. Wir arbeiten dann gemeinsam  daran, dass dieses Bewusstsein nicht zu Scham oder Schuldgefühlen führt, sondern leiten diese Gefühle positiv um.

ZKK: Gibt es eine Übung oder einen Moment aus einem früheren Seminar, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Dr. Vanessa Vollmann: Mir ist besonders ein Studierender im Kopf geblieben, der nach unserem „Privilege Walk“ so erstaunt darüber war, dass er gar nicht über so viele Privileigien verfügt, wie er angenommen hatte. Seine Offenheit darüber hat alle anderen beflügelt, gemeinsam zu erkennen, wie wir alle durch unser Handeln systemsische Ungerechtigkeiten bekämpfen können – jeden Tag.

ZKK: Warum ist es gerade für Studierende aller Fachrichtungen wichtig, sich mit Anti-Rassismus und Anti-Sexismus auseinanderzusetzen?

Dr. Vanessa Vollmann: Es gibt einfach keinen Bereich in unserer Gesellschaft, der nicht von Diskriminierungsstrukturen betroffen ist. Deshalb ist es für alle wichtig, das Systemische daran besser zu verstehen.

ZKK: Für wen eignet sich der Workshop besonders? Und braucht man schon Vorwissen, um daran teilzunehmen?

Dr. Vanessa Vollmann: Alle sind herzlich willkommen. Man braucht kein Vorwissen. Wir verwenden keine Meta- oder Fachsprache. Wir können den Workshop auf Deutsch oder Englisch machen oder beides gleichzeitig, je nach Bedarf.

ZKK: Was würden Sie Studierenden raten, die das Gefühl haben, zwar „etwas tun zu wollen“, sich aber oft sprachlos oder unsicher fühlen, wenn es konkret wird?

Dr. Vanessa Vollmann: Sie sollten unbedingt zu uns in den Workshop kommen. Danach werden sie sich bestimmt etwas weniger unsicher fühlen und können lernen, wie man an der eigenen Sprachzeugkiste schreibt und arbeitet und übt.

ZKK: Wenn Sie einen Wunsch hätten: Was würden Sie sich für den gesellschaftlichen Umgang mit Sprache in den nächsten Jahren wünschen?

Dr. Vanessa Vollmann: Ich wünsche mir, dass Sprache sich auch in unseren Zeiten an die gesellschaftlichen Verhältnisse anpasst. Wenn ich durch meine Sprache dafür sorgen kann, dass sich jemand anders genauso inkludiert und gesehen fühlt wie es die Mehrheitsgesellschaft tut – was spricht denn bitte dagegen zu gendern oder Menschen mit den Pronomen anzusprechen, die sie bestimmen? Ich verstehe die Aufregung nicht.

ZKK: Vielen Dank!

Ich bin damit einverstanden, dass beim Abspielen des Videos eine Verbindung zum Server von Vimeo hergestellt wird und dabei personenbezogenen Daten (z.B. Ihre IP-Adresse) übermittelt werden.
Ich bin damit einverstanden, dass beim Abspielen des Videos eine Verbindung zum Server von YouTube hergestellt wird und dabei personenbezogenen Daten (z.B. Ihre IP-Adresse) übermittelt werden.
Video anzeigen