Prof. Dr. Michael Grimm, Inhaber des Lehrstuhls für Development Economics an der Universität Passau, und seine Mitarbeiterin Ann-Kristin Reitmann untersuchten, inwiefern tunesische Frauen gleichberechtigt an Wirtschaft und Gesellschaft teilhaben können. "Defizite zeigen sich vor allem in der ökonomischen Partizipation", fasst Prof. Dr. Grimm das Ergebnis zusammen. In die Wertung flossen unter anderem Faktoren wie der Zugang zu Beschäftigung, zu Kapital oder die Beteiligung an Entscheidungen zur Einkommensverwendung im Haushalt ein.
Es zeigte sich, dass tunesische Frauen im Wirtschaftsleben deutlich mehr Schwierigkeiten als Männer haben. Die Situation verschärfe sich, wenn zwei Faktoren aufeinandertreffen: konservative Einstellungen und eine schlechte Wirtschaftslage. Wenn also, wie in Tunesien, die Arbeitslosigkeit hoch ist, schwächt das die Position der Frauen zusätzlich. Der Rat des Entwicklungsökonomen lautet: "Tunesien muss den strukturellen Wandel bewältigen und sich auf dem Weltmarkt besser etablieren, um Arbeitsplätze zu schaffen, die auch für gut ausgebildete Frauen attraktiv sind."
Tunesien gilt in der arabischen Welt als besonders fortschrittlich bei den Frauenrechten. Die Verfassung von 2014 schreibt die Gleichstellung von Mann und Frau fest. Mehr als 30 Prozent der Parlamentsmitglieder sind Frauen. "Geschlechtergerechtigkeit ist natürlich ein Ziel in sich", sagte Prof. Dr. Grimm, "aber auch aus rein ökonomischem Kalkül heraus sollte ein Land allen Bürgerinnen und Bürgern die gleichen Chancen bieten."
Die tunesische Frauenministerin Naziha Laabidi war anwesend, als die Passauer Forscherinnen und Forscher die Ergebnisse der Studie in Tunis etwa 50 hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Wissenschaft präsentierten. Das Centre for Arab Women for Training and Research veranstaltete gemeinsam mit dem Passauer Forschungsteam die Vorstellung der Studie. Der Direktorin des Centre zufolge hätten die schlechten Werte im Bereich der wirtschaftlichen Teilhabe weniger mit der Religion an sich zu tun, als vielmehr mit konservativen Wertvorstellungen. Eine muslimische Frau, die aktiv am Arbeitsleben teilhabe, widerspreche keinerlei religiösen Prinzipien.
Die Studie ergab, dass tunesische Frauen im gesellschaftlichen Leben und im Bereich Bildung annähernd gleichberechtigt sind. Zum Teil erzielten sie hier sogar bessere Werte als die Männer. Dennoch hätten sie Hemmungen, Tätigkeiten in männerdominierten Branchen nachzugehen. Auch zeigte sich, dass die schlechte Lage am Arbeitsmarkt konservative Rollenvorstellungen verfestigt: In städtischen Gebieten stimmt eine knappe Mehrheit der jungen Männer (56 Prozent) der Aussage zu, wonach bei knappen Arbeitsplätzen zunächst die Männer zum Zuge kommen sollten. Junge Frauen lehnen diese Aussage mehrheitlich ab. "Hier tritt die Spannung richtig zu Tage", sagt Prof. Dr. Grimm.
Das Passauer Forschungsteam befragte für die Studie 2511 Personen, darunter 1320 Frauen. Forscherin Ann-Kristin Reitmann koordinierte die Interviews vor Ort in Zusammenarbeit mit dem Tunesischen Institut BJKA. "Insgesamt zeigt die Studie, dass 95 Prozent aller Frauen Defizite im Empowerment aufweisen, hauptsichtlich im wirtschaftlichen Bereich. Bei den Männern waren es 76 Prozent", so Reitmann. Prof. Dr. Grimm ergänzt: "Es handelt sich hier um ein globales Problem, das wir speziell im arabischen Kontext angeschaut haben. Es gibt allerdings kaum ein Land, das in Sachen Geschlechtergerechtigkeit glänzende Werte erzielt."
Deutschland etwa landete in einem weltweiten Vergleich des World Economic Forum von 144 Ländern bei der wirtschaftlichen Teilhabe von Frauen auf Platz 43 - hinter afrikanischen Ländern wie Namibia, Ruanda und Burundi. Im Bereich Bildung belegte die Bundesrepublik den 98. Platz - knapp vor Tunesien auf Platz 99.
Neben den Aspekten der wirtschaftlichen Teilhabe untersuchte das Passauer Team in seiner Studie auch die Bereiche häusliche Gewalt gegen Frauen sowie die Teilhabemöglichkeiten der jungen Generation am Arbeitsmarkt. Die Ergebnisse werden nun genutzt, um mit lokalen Expertinnen und Experten in den nächsten Monaten konkrete Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger in Tunesien herauszuarbeiten.
Der Fund for Evaluation in Employment der International Labour Organization (ILO) finanzierte die Passauer Studie. Weitere Kooperationspartner waren die Universitäten Tunis und Sfax in Tunesien sowie UNU-MERIT in Maastricht.